X . X . B – Бабин Яр

am siebten oktober vergangenen jahres, einem nicht mehr ganz so regnerischen donnerstag, befand ich mich durch diverse umstände für ein paar tage in graz und las zufällig auf twitter die ankündigung meines freundes st.roiss, er lese diesen abend im literaturhaus, und ich hielt das für einen der bestmöglichen zufälle überhaupt, worauf ich ihm per tweet meine teilnahme ankündigte und dabei feststellte, dass nicht nur st.roiss sondern am selben abend noch georg seeßlen und max czollek dort lesen würden, so dass es ein ganz sicher herausragender abend werden könnte, und es wurde ein ganz herausragender abend, sowohl was lesungen und fragerunden bei den lesungen betraf, als auch meine doch zufällige anwesenheit nach den lesungen im gasthaus, wo wir also dann alle auf kosten des literaturhauses einkehrten und erst einigermaßen spät die schenke verließen, dann ging ich mit max durch das nachthelle graz und wir sprachen über dem ihm im sommer widerfahrenen shitstorm bzgl seiner abgesprochenen aberkannten angeblich unrechtmäßig zugesprochenen zugehörigkeit zum judentum als „nur“ vaterjude und er sprach viel und gern über seinen vater und die ihn prägenden erlebnisse als kleiner junge mit ihm, welcher viel zu früh verstarb, und so kamen wir auf die friedhöfe zu sprechen, ich meinerseits auf den vergessenen jüdischen friedhof in osijek, auf dem der grabstein einer elisabet preiss umgefallen überwuchert, mit ihr habe ich keine (mir bekannte) verwandtschaftliche beziehung, ich habe überhaupt keine (mir bekannte) verwandschaftliche beziehung ins judentum, doch die vorstellung, mit elisabet in osijek irgendeine unbekannte verwandtschaftliche beziehung zu haben, ist so reizvoll wie romantisch, und max erzählte von dem schönsten ihm bekannten friedhof in czernowitz in der westukraine, in der bukowina, als altem teil galiziens, eine region, die ich aus den galizischen geschichten von andrzej stasiuk und geschichten von juri andruchowitsch kannte, die ich eigentlich seit ewigkeiten bereisen wollte, mit der ich als kind bei den urlauben in südpolen und im osten der tschechoslowakei entfernten kontakt hatte, kurz: die dringend auf der karte stand, so redeten wir über die friedhöfe und verabschiedeten uns auf ein nächstes mal, mit meinem freund st.roiss ging ich anschließend noch sehr ausführlich etwas trinken, und erst vorgestern trafen russische rakten den kiever fernsehturm, ein weithin sichtbarer angriff der russischen armee bei dem fünf menschen starben, dieser fernsehturm steht unmittelbar neben dem gebiet babyn jar, ein tief eingeschnittenes tal, in dem am 29. und 30. september 1941, nur etwas mehr als drei monate nach dem überfall auf die sowjetunion, die wehrmacht fast 34.000 juden ermordeten, es war das größte einzelmassaker der wehrmacht in diesem krieg, und es hat im gedenken so wenig spuren hinterlassen, dass wir in graz über jüdische friedhöfe reden konnten, ohne an babyn jar und den kiever jüdischen fernsehturm zu denken, auf dessem ursprünglichen gelände 41 sich die zur ermordung vorgesehenen menschen sammeln und aufzustellen hatten, bevor es in die schlucht ging, und weil auch stalin mit diesem massaker wenig anzufangen wusste, es waren ja bloß juden, keine richtigen menschen, verschwieg auch die sowjetunion die ereignisse, bis erst 20 jahre später jewgenij jewtuschenko den ort besuchte und darüber ein gedicht veröffentlichte, was wiederum den komponisten schostakowitsch so bewegte, dass er mit drei weiteren gedichten jewtuschenkos seine 13. sinfonie komponierte und 1962 uraufführte, gegen alle sowjetischen widerstände, denn sowohl gedicht als auch sinfonie prangerten den tiefsitzenden sowjetischen antisemitismus an, was von einem komponisten von schostakowitschs rang, der erst wenige monate zuvor feierlich in die kommunistische partei aufgenommen worden war, als affront, selbst im tauwetter, aufgefasst werden musste und wurde, zumal die bauarbeiten für den fernsehturm begonnen hatten, für den der jüdische friedhof eingeebnet worden war, eben jener unmittelbar bei babyn jar, auf dem nun also der kiever fernsehturm aufragte, so sah also die neue zeit und der neue mensch aus, aufrecht statt ermordet, während das massaker eigentlich fast schon vergessen war, wie man glaubte und hoffte, aber jewtuschenko und schostakowitsch widersprachen laut, später begann man sogar, denkmäler zu errichten, nach der ukrainischen unabhängigkeit entstanden ein gedenkpark und ein denkmal, die eigentliche gedenkstätte wurde erst in jenem herbst eingeweiht, in dem ich mit st.roiss und max czollek in graz über jüdische identitäten und friedhöfe und literatur und gesellschaft und gedächtnis sprachen und witze am fließband rissen, ein tag zuvor war in kiev in der gedenkstätte schostakowitschs sinfonie aufgeführt, zum 80. gedenktag des massakers, und kaum sechs monate später wurden sowohl der fernsehturm als auch gedenkstätte von der russischen armee beschossen bei ihrem auftrag der „de-nazifizierung“ der ukraine, dem einzigen land außer israel mit einem jüdischen präsidenten, die korrespondentin im radio sagte dazu, dass alle wissen, was sich dort außer dem fernsehturm befindet und was dort noch angegriffen wurde außer dem freien ukrainischen fernsehen und radio, und jewgenij jewtuschenko hat damals noch ein anderes gedicht geschrieben, das ebenfalls so ziemlich jeder in der ddr kannte, meinst du die russen wollen krieg, vielen auch als lied geläufig, und dass tatsächlich russland auf die vom gedicht nur rhetorisch gemeinte frage eine derart finstere vulgäre obszöne zynische offen antisemitische antwort geben würde: nichts davon konnten wir uns am vergangenen 7. oktober, ehemals einem feiertag zur ddr-staatsgründung, im steiermärkischen graz nicht auch nur im ansatz vorstellen.

nachtrag: wie stark die antisemitische schlagseite des russischen angriffskrieges ist, der russischen imperialen politik insgesamt, ist am wochenende von außenminister lawrow im italienischen tv zur schau gestellt worden, als er den ukrainischen präsidenten selenskyi einmal mehr mit hitler verglich und dabei zum einen die sich hartnäckig haltende frankenberger these aufgriff, derzufolge hitler selbst jüdische vorfahren hatte, was mehrfach eindeutig widerlegt ist, und zum anderen einmal mehr die juden selbst als die eigentlichen antisemiten bezeichnete, was zum standard antisemitischer rhetorik gehört, derzufolge die juden die wahren nazis waren und sind, womit sich auch das russische narrativ der von den ukrainischen nazis zu befreienden ukraine als kriegsbegründung formvollendet, denn selenskyi ist bekanntermaßen jude, lawrow also versucht gar nicht mehr irgendeinen logischen widerspruch von der ukrainischen naziregierung und einem jüdischen präsidenten mit halbherzigen formulierungen, es seien eben besondere zeiten in denen alles möglich geworden sei, zu kaschieren, sondern machte aus seinem herzen keine mördergrube indem er freimütig seinen zutiefst wahrhaftig empfundenen antisemitismus bekannte, so rein und klar wie es vor ihm in der russischen führung bisher noch niemand getan hatte, auch putin selbst nicht, natürlich nicht, der sich als leader für alle menschen in russland inszeniert, wohl wissend, dass ihm seine bevölkerung nur als bäuerische meute genehm ist, der seine multiethnische bevölkerung immer dann toll findet, wenn sie ihm zu ehren stirbt, dann ist putin selbstverständlich ein dagestaner und jude und ingusche und tartare und wasweißichnochalles, jedenfalls ist er das mit größter patriotischer und pathetischer inbrunst, wenn er den heldenhaften einsatz seiner soldaten im tv anschaut, sehr wahrscheinlich wissend, dass vor allem die angehörigen der ethnischen minderheiten in der ukraine drauf gehen, die leben nämlich mehrheitlich in ihren autonomen regionen und republiken deutlich stärker von armut bedroht oder mittendrin im russländischen schlamm als der wertvollere ethnische russe, und die präsidentiale winterjacke von rund 13.000€ aus der schow im luzhnikistadion werden sich die zum draufgehen in die ukraine befohlenen dagestaner und burjaten – die beiden bevölkerungsgruppen mit den deutlich meisten toten – auch dann nicht leisten können, wenn sie ihren sold alle zusammenlegen würden, denn so war es auch schon im großen vaterländischen krieg, auch da landeten die besonders armen aus den besonders nicht ganz so sehr russischen regionen ziemlich weit vorn an den fronten, um dann umso stärker von stalin bejubelt werden zu können als heldenhafte opfer fürs multiethnische sowjetvaterland, und wo putin den juden als heldenhaftes opfer braucht, braucht ihn lawrow als antisemitischen nazifeind, und beides ist ausdruck ganz ehrlich aufrichtig und zutiefst empfundener verachtung.