vater

heute Nacht 2:15 ist Vater verstorben, gestern wurde er deutlich schwächer, schrieb Mutter aus dem Krankenhaus. Morgen fahren Tolja und ich zu ihr. Es ist gut für beide, dass meine Mutter ihn wirklich bis zum Schluss begleiten konnte und er keine Schmerzen hatte, ein ruhiger sanfter Tod. mehr später

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die beisetzung fand am 17.04. statt, die trauerrede hielt ich selbst, es war mir wichtig, mich selbst von vater verabschieden zu können, statt den oft eigenartig pädagogischen worten („dieser tod ist für uns alle nur schwer zu verstehen“ etc) eines menschen, der den/die verstorbene/n nur vom blatt kennt. mutter und antje habe mich auch gebeten, die rede zu halten. wir haben sie zu dritt dann in die schlussfassung gebracht, vergessen habe ich doch noch die episode mit dem anzug, den ihm sein vater ernst schneiderte, und dass er auch mir im dezember 2021 einen mantel kaufte und mir gern seine anzugjacken aus der schweizer-rente-zeit überließ…. es hat gut getan, die rede zu schreiben und sie zu halten, einen persönlichen blick auf meinen vater, der spätestens mit corona, mutter glaubt aber bereits im jahr vorher, anzeichen seiner lewi-body-demenz zeigte, nicht mehr las, weil er das gelesene nicht mehr erfassen konnte, krummer ging und häufig stolperte, weil die koordinierung stück für stück schwerer wurde, und er das alles auch mitbekam und darüber frustriert war, dass ihm sein bisher sicher überblicktes und in händen gehaltenes leben entglitt, immer mehr, bis er nicht mehr in der lage war, sein eigenes konto zu führen oder eine flasche wein zu öffnen, und er auch nicht mehr im schlaf sicher war, solange sie noch im hochbett schliefen. mutter hätte sich liebend gern früher auf die pflege für ihn konzentriert, jedoch war er selbst für sich noch kaum bereit, seine sich zusehends verschlechternde gesundheit zu akzeptieren, erst im januar 2023, als kaum noch zeit blieb und mutters vorsorge für die häusliche pflege letztlich doch zu spät kam. ich konnte ihn noch zweimal an wochenende im märz besuchen, das erste war unerwartet, denn eigentlich wollte ich zu christin nach caen, aber der französische bahnstreik machte die reise unmöglich und ich fuhr zu meinen eltern, mutter und ich besuchten vater jeden tage, der kaum mehr wiederzuerkennen war. ein außerordentliches wochenende, zuerst traf ich meine cousinen barbara und ute mit gerda – auch sie leidet an altersdemenz -, dann traf ich renate lichnok und telefonierte mit kalle krause, im krankenhaus lief mir meine ehemalige mitschülerin daniela münch über den weg, die jetzt grundschullehrerin in zella mehlis ist, und schließlich traf ich nach ewigkeiten bärbel bittner wieder. und vater erkannte mich und wir lachten gemeinsam, wobei er mir ziemlich unverständliche dinge erzählte, aber er hatte mich erkannt und sich gefreut, und ich sah im ggs zu meiner mutter keine perspektive einer rückkehr nach hause…… das zweite wochenende nahm ich die kinder mit, dass sie sich verabschieden können, mutter schlief bereits bei vater im zimmer, wir waren also zu dritt in der wohnung, in der ein ungenutztes pflegebett stand, und das wochenende darauf war vater bereits verstorben, und bis zur beerdigung fuhr ich jedes wochenende, mit oder ohne anatol, zu mutter und ich halt ihr so wenig ich konnte bei der vorbereitung, das meiste machten sie und antje zusammen….. und dann saßen wir oft gemeinsam und stellten uns sein leben vor, wir fanden fotos aus seinen lebensphasen, erst gestern schickte mir antje bilder von ihm als baby noch vom fotografen in hamburg, und mutter erzählte mir sachen, von denen ich keine vorstellung hatte, sowohl was seinen körperlichen verfall betraf als auch zb seine nie versiegende eifersucht, die sich auch in den letzten monaten verstärkt zeigte, oder auch dass sie noch zu ddr zeiten kurzzeitig überlegt hatte, ihn zu verlassen, oder was sie bei stefan versäumt hatten, etwa ihn viel mehr zu umarmen und auch zu trösten, oder dass er in der lage war im ggs zu ihr, sehr schnell und vollständig zu verzeihen, etwa nach streits, und dass aus seinem leben sehr viele leere stellen und fragen übrig geblieben waren, etwa wann genau und vor allem warum sich sein vater tatsächlich umgebracht hatte, in der ddr, und wie die familie mit seinem tod kaum umgehen konnte, ja den vater geradezu tabuisierte und verehrte gleichermaßen……

gestern wäre vater 83 geworden, mutter, antje, peter und erika mit annemarie und manfred und oliver haben mit ihm und stefen zusammen eine flasche wein am grab getrunken, und meine rede hat mutter in die leere flasche als nachricht an ihn mit ins grab gegeben. das freut mich sehr.

Alle die von Freiheit träumen
sollen’s Feiern nicht versäumen
sollen tanzen auch auf Gräbern –

singt Marius Müller-Westernhagen,

mein Vater mochte den Gedanken sehr gern, dass auch auf seinem Grab getanzt wird, dass man ihm fröhlich und freien Herzens gedenke, dass man an ihn zurückdenken solle ohne Schwermut und Trauer, sich stattdessen seiner Lebensfreude erinnere, diese mitnehme und weitertrage.

Liebe Familie, liebe Freunde,

erinnern wir uns also an meinen Vater, an meinen Ehemann, an meinen Bruder, meinen Opa, meinen Onkel, meinen besten Freund, an meinen Kollegen und meinen Nachbarn als an einen Menschen, der das Tanzen ebenso liebte wie das tiefgründig ausufernde Gespräch, der ebenso konzentriert sein konnte wie er zu den albernsten Scherzen aufgelegt war, sogar noch im Sterbebett. Neugier und Lebensfreude war die Haltung, mit der er auf die Welt schaute, wohl wissend, dass diese längst nicht immer freudig zurückschaute. Mein Vater hat in seinem Leben viele außergewöhnliche Momente erlebt, voller Freude und Zuversicht, aber auch voll Schmerz, von manchem hat er kaum erzählen können.

1)

Mein Vater Michael Preiß hat ein Leben geführt in besonderen historischen Umständen. Geboren nach Anne und Ilse als drittes Kind eines Schneiders und einer Säuglingsschwester im nationalsozialistischen Hamburg während des ersten Kriegsjahres, wurde die Familie drei Jahre später, um die dritte Tochter Erika gewachsen, aus dem Souterrain am Kuhmühlenteich im Stadtteil Uhlenhorst während der „Aktion Ghomorra“ durch Bomben vertrieben; das nach dem Krieg wiedererrichtete Wohnhaus hat er erst weit in den 2000er Jahren erstmals besucht; in einem Hotel nicht weit davon entfernt wollten wir seinen 80. Geburtstag feiern, aber die Pandemie strich alle Pläne durch.

Die durch die Hamburger Bombennächte im Sommer 1943 wie hunderttausend Andere zur Flucht genötigte Familie – der Vater Ernst diente aufgrund seines Asthmas nicht in der Wehrmacht – gelangte über lange Umwege in ein Aufnahmelage im sächsischen Werdau, wo das fünfte Kind Peter zur Welt kam, schon nach Kriegsende, und von dort ins südthüringische Schmalkalden, wo die Eltern Arbeit bekamen. Über die frühen Jahre in Schmalkalden sprach mein Vater später insgesamt weniger, doch er liebte das Leben in der Dachwohnung des Wolfsberg 1, er sprach über das wilde Schlittenfahren, zu Weihnachten durften die Kinder um die bunten Zuckerkringel am Tannenbaum spielen.

2)

Früh schon, mit 14 nach der 8. Schulklasse, begann mein Vater in Greiz eine Ausbildung zum Papiermacher, die Herstellung von Toilettenpapier oder geschöpftem Büttenpapier waren ihm bestens vertraut. Anschließend, mit 17, begann der Armeedienst, den er freiwillig verlängerte, in Strausberg bei Berlin. Er kehrte zurück und wurde Pionierleiter, begann mit dem Laufen, sehr spät für einen jungen Sportler, evtl zu spät, doch er liebte das Rennen. Viele Jahre später, in der Waldenstraße, zeigte er mir ein Bild von sich als Langstreckenläufer, wie es in einer Schmalkalder Zeitung der 1960er Jahre abgebildet war, das hatte er gut aufgehoben, ein langer dünner Kerl rannte durch ein hügeliges Gelände. Er nahm an Deutschen Meisterschaften teil, gewann Bronze, zur absoluten Spitze reichte es nicht mehr.

Mit Mitte 20 gründete er eine Familie mit Heike, seiner ersten Frau, seine Tochter Antje kam zur Welt. Erst sehr spät hab ich aus diesen Tagen Fotos gesehen, mit meiner Schwester als kleines Kind. Die Fotoalben in unserer Familie kannten die frühen Bilder leider nicht.

Der tragische und viel zu frühe Tod seines Vaters beendete die Zeit im Thüringer Wald, mein Vater zog mit Heike und Antje nach Erfurt.

3)

In Erfurt, wo er inzwischen nicht mehr als aktiver Sportler, aber als Betreuer und Org-Instrukteur im Erfurter Sportclub tätig war, zuständig insbesondere für die Ausrüstung und Kleidung der Aktiven, lernte er Beate kennen, seine spätere zweite Frau, meine Mutter. Sie mochten sich auf Anhieb, auch wenn er sie mit seinen Scherzen immer wieder verlegen machte. Heike stellte sich nicht dazwischen, das Verhältnis blieb über die Jahre gut, insbesondere Antje gehörte unter anderem in den Ferien und bis heute fest zur Vaterfamilie. Michael und Beate verabredeten sich im Café Rommel, bald darauf folgte eine der unglamourösesten Hochzeiten der DDR. Kommt noch jemand, fragte die Standesbeamtin, nicht einmal Trauzeugen waren zugegen, fertig. Mein Bruder Stefan kam wenige Monate später. Und nochmal 2,5 Jahre später dann ich.

Es waren gute Jahre für meinen Vater, auch meine Mutter, die 1970er und 80er in der DDR, mein Vater hatte sich sehr gründlich in die junge Schwimmtrainerin aus Leipzig verliebt, die die Musik der Beatles so liebte, man konnte so herrlich dazu tanzen, egal was Herr Ulbricht davon hielt, she said she loves you und das stimmte. Zusammen erlebten sie die wirtschaftliche Entwicklung des Landes, ebenso die sportliche, die Weltstars wie Roland Matthes hervorbrachte, der Sport war auch eine Chance, andere Länder kennenzulernen. Ungarn Rumänien Bulgarien Jugoslawien Polen die Sowjetunion, mein Vater erzählte immer wieder von seiner Reise mit Heike und seinem besten Freund Eberhard nach Dubrovnik, und es war etwas ganz Besonderes für ihn, als ich dann viele Jahrzehnte später ihm beruflich aus Dubrovnik Fotos schickte.

Mein Vater lernte Autofahren, meine Mutter überzeugte ihn nicht aufzugeben. Sehr gut, denn die Urlaube mit dem neuen Trabant, ob im Land oder in der CSSR oder Polen, gehörten schnell zum festen Bestandteil des Familienlebens wie Vaters ausgelassene Fröhlichkeit während der Fahrten, sei es bei sing mei Sachse sing oder alle stimmten laut Peter Alexander bei: wir haben ja zum Glück den guten alten Papa unser bestes Stück.

Meine Eltern kauften sich einen Garten und wir Kinder lernten ein bisschen gegen unseren Willen landwirtschaftliche Grundbegriffe, aber Unkraut jäten und Kartoffelkäfer sammeln waren fast irrelevant gegen den unschlagbaren Geschmack der Suppe mit sämtlichem Gemüse Marke Eigenbau.

Vater, währenddessen, absolvierte ein kraftraubendes Fernstudium der Ökonomie, auch hier motivierte ihn meine Mutter, auf keinen Fall aufzugeben, denn jede begonnene Entwicklung sollte man erst einmal zu Ende bringen. Eine kluge Entscheidung, denn schon bald sollte sich die Welt erneut stark wandeln, wofür er jede erworbene Fähigkeit benötigt. In der Familie jedoch gibt es traurige Ereignisse – die Schwester Ilse war tragisch verstorben, und bald darauf auch seine Mutter, Oma Lotti, liebevoll die „kleine“ Oma genannt. Ich hatte meinen Opa Ernst nicht kennenlernen können, nun fehlte auch noch die kleine Oma aus Hohen-Neuendorf. Am Ende dieses Jahrzehnts steht aber ein Lichtblick, Florian kommt zur Welt, Vater wird das erste Mal Opa.

4)

In den 50. Geburtstag meines Vaters bricht die kaum für möglich gehaltenene politische Wende, auf die unweigerlich berufliche maximale Veränderungen folgen. Mein Vater, der im regionalen Sportclub Turbine Erfurt und auch national durch seine sehr offene, fröhliche, gleichzeitig verlässliche, gründliche und zupackende Art und Arbeit viele Freunde und Unterstützer hatte, bekam viele Angebote für Posten im Sportbereich, doch er war nicht überzeugt, dass seine Tätigkeit in den westdeutschen Clubs gebraucht wurde, skeptisch blickte er in die Zukunft des ostdeutschen Sports. Ein befreundeter Trainer aus Jena schlug ihm 92 etwas völlig anderes vor, das aber mit seinem Ökonomiestudium sinnvoll zusammenpasste, und nicht zuletzt mit dem allgemein deutschen Streben nach Stabilität: Ein schweizer Versicherungs-Unternehmen suchte in Thüringen Leitungspersonal. Mein Vater, nach einer durchzechten Nacht mit Freunden in Prag, stellte sich vor und bekam die Stelle, von Anfang an als Bezirksdirektor. Dieser berufliche Neuanfang ging einher mit einer weiteren familiären Tragödie: die psychische Erkrankung meines Bruders Stefan und ihre leidvollen Etappen bis hin zu seinem traurigen, unfassbaren Tod.

Ruhe ist nicht das, was das Leben meines Vaters kennzeichnet. Er hat sich vor Problemen nie gescheut, war auch mit über 50 noch bereit und willens, sich vollkommen neu zu orientieren und schaffte Ungewöhnliches: Als echtes Kind der Arbeiterklasse und mit 8. Klasse Schulabschluss, dem er erst in seinen 40er Jahren den Regelabschluss – ohne Russisch! – und ein Fernstudium folgen ließ, übernimmt er für mehr als ein Jahrzehnt die regionale Leitung eines schweizerisch-westdeutschen Unternehmens. Eine absolute Ausnahme in der wiedervereinigten deutschen demokratischen Bundesrepublik.

5)

Seine Zeit als wohlverdienter Pensionär nach vollen, ereignisreichen 45 Arbeitsjahren verbringt er mit meiner Mutter in der vllt schönsten ihrer gemeinsamen Wohnungen in der Tschaikowskistraße. Weitere Enkel kommen zur Familie, erst Oliver, dann Franzi. Und dann auch, beide im fernen Sibirien geboren, Liljana und drei Jahre später schließlich Anatol. Meine Eltern, beide Male gänzlich zufällig, sind zu beiden Geburten anwesend. Denn sie reisen nun gemeinsam sehr viel, auch in entferntere Regionen, die ihnen ihr ebenfalls wenig sesshafter Sohn, ich, eröffnet, und immer wieder Frankreich und Südtirol, aber auch eine 800km Wanderung auf dem spanischen Jakobsweg ist mit dabei oder die Portugiesische Atlantikküste.

Zu Hause ist mein Vater ebenfalls kein Freund des Sofas, bleibt jederzeit hilfsbereit und engagiert, übernimmt ehrenamtlich die Finanz-Orga eines zwar kurzlebigen, doch erfolgreichen Laufclubs in Erfurt, und hat großes Interesse auch an den vielen technischen Entwicklungen, Linux, Smartphones, nicht-lineares Fernsehen über Mediatheken –

6)

Wann die Krankheit beginnt, die ihn zunehmend von seiner gewohnten Welt und seinen geliebten Menschen entfremdet, ist nicht zu benennen. Die Pandemie und ihre erzwungenen Verzichte hinterlassen ebenso tiefe Spuren wie die Verluste von Freunden in nur wenigen Monaten, die schwere Erkrankung von Antje schockiert ihn, der Aufstieg der völkischen AfD insbesondere in Thüringen macht ihn fassungslos, der russische Überfall auf die Ukraine erschüttert ihn massiv – er verliert seine gewohnten, bekannten, wichtigsten Fähigkeiten der Orientierung in den Zahlen, er wird zusehends schwächer, trotz aller Verirrungen doch immer wieder getragen von einer unverbesserlichen Lebensfreude. Ich bin glücklich, sagt er lächelnd, wenige Tage bevor der Körper ihn nicht mehr tragen kann. Seine geliebte Frau Beate, seine Kinder und Enkel, seine Geschwister und Freunde trugen ihn die letzten Tage bis zur wohlverdienten Ruhe.

7)

Macht euch keine Sorgen, mir gehts gut, würde er jetzt wahrscheinlich sagen und ein bisschen schelmisch lächeln. So wie stets vor seinem liebsten Scherz, wenn die Kellnerin nach dem Essen fragt, ob er noch einen Wunsch hat, worauf er antwortete, er würde gern nicht bezahlen. Wir machen uns keine Sorgen, wir werden das Feiern nicht versäumen, und an dich denken als ein Mensch mit selbstverständlicher Hilfsbereitschaft, sei es bei Umzügen oder in Notlagen, mit Leidenschaft für Kuchenteig ebenso wie großer Ausdauer, zum Beispiel bei der Weinlese in Österreich, mit der Fähigkeit auf Menschen zugehen zu können oder gute Feste zu feiern, ein Mensch mit Freude und Ernst und viel Liebe für das Gute an sich, für die Hoffnung und die trotz allem wundervolle Welt, in der er sehr gerne und intensiv lebte.

Wir machen uns keine Sorgen, jetzt nicht mehr, wir wissen, es geht dir gut.