fast 14 jahre

anfang 2011 saß ich im zugefrorenen sibirien und schaute abende- und nächtelang auf die ereignisse, die sich von tunesien aus auf die arabische welt und bis in den iran ausweiteten: den arabischen frühling, die arabellion. twitter erlebte damals einen enormen aufschwung, in echtzeit konnte man die ereignisse aus immer mehr staaten verfolgen, nicht zuletzt syrien. ich hatte seit einiger zeit einen twitter-account, ich nutzte ihn vorrangig, um möglichst viele unterschiedliche nachrichten-medien zu versammeln und ereignisse aus vielerlei quellen zu erfahren, aus deutschland und russland und österreich und spanien und frankreich und kroatien und großbritannien oder den usa etc. die vielen medien einzeln ansteuern war mühsam, die medien selbst eher schwerfällig und die überall auf den seiten blinkenden live-ticker waren viel zu langsam im vergleich mit dem sich sekündlich aktualisierenden, hochkonzentriert gebündelten newsfeed auf dem microblogging-dienst. die ereignisse überschlugen sich regelmäßig, fesselten mich, faszinierten mich, emotionalisierten mich derart, dass ich nächtelang meinen newsfeed las, auch tagsüber im büro und dann zu hause stets die twitter-webseite offen hatte, weil mein nokia 5530 xm eine mäßige app anbot, sich mein leben eigenlich nur so nebenher abspielte, zumal meine gesamte umgebung von den ereignissen kaum notiz zu nehmen schien – und wohl auch nicht nahm, denn im russischen tv waren die arabischen ereignisse eine nachricht unter vielen anderen, außerdem mochte man schon damals es offiziell gar nicht, wenn sich die bevölkerung gegen die herrschende aristokratie auflehnte ( wie man ende desselben jahres 2011 bei den protesten gegen die ebenfalls via twitter breit dokumentierten wahlfälschungen erleben konnte, die auch den aufstieg nawalnys bedeuteten, der mitte februar des jahres 2024 von seiner rücksichtslosen aggressiven staatsführung ermordet wurde ) außerdem war politik schon damals kein thema, über das man eben mal so mit menschen sprechen konnte, selbst meine frau nahm das alles nur am rande wahr, während ich den blick nicht abwenden konnte und tatsächlich den eindruck hatte, einer tiefgreifenden historischen entwicklung in einem wichtigen teil der welt twitter-live beiwohnen zu können.

fast vierzehn jahre sind seither vergangen, twitter existiert nicht mehr, mein account ist gelöscht, bluesky ist noch lange nicht in der lage, das von elon musk zerstörte twitter/x zu ersetzen. die arabellion hat zu tiefgreifenden veränderungen in der welt geführt, oft genug nicht zum positiven, in syrien hat sich assads regime relativ schnell entschlossen, brutal die proteste niederzuschlagen und so einen extremen bürgerkrieg auszulösen, russland intervenierte später im sinne assads in syrien, während sich usa und nato, außer der türkei, intensiv zurückhielten, was die radikalen kräfte zunehmend stärkte, insbesondere den islamischen staat, der im sommer 2014 auf irakischem und syrischem gebiet sein kalifat ausrief und den völkermord an den jesiden beging, während russland erst die krim annektierte und dann in der ostukraine aufstände inszenierte und so die ukraine ein erstes mal militärisch angriff, um es acht jahre später offen völkerrechtswidrig zu überfallen, während aus syrien millionen von menschen flüchteten und auch in deutschland schutz suchten, was hierzulande eine bis heute anhaltende politische krise auslöste und zunehmend flüchtlingsfeindliche, rassistische parteien in beinah allen europäischen ländern an die regierungen brachten, in deutschland wesentlich von der offen menschen- und demokratiefeindlichen afd vorangebracht, aber längst nicht nur dieser, während die zusammenbrechenden staaten des arabischen raumes vom irak über die arabische halbinsel bis über den gesamten afrikanischen norden hin in abwehrkämpfe gegen islamistische und fundamentalistische gruppierungen ausgesetzt sahen, ob im ägypten der muslimbruderschaft oder im nach ghaddafis sturz im bürgerkrieg versunkenen libyen, ebenso im irak oder im jemen, wo sich saudi-arabische und iranische milizen einen brutalen krieg liefern, oder eben in syrien – bis heute.

bis heute das über ein halbes jahrhundert regierende assad-regime mit der bath-partei in kürzester zeit gestürzt wurde, von djihadisten und extremen kräften, die ihre wurzel im is und al-qaida haben, aber sich irgendwie davon distanzieren, was immer das bedeutet. ein echtes jahrhundert-ereignis, dessen auswirkungen auf die gesamte region noch völlig unklar sind, auf israels krieg gegen hamas und hisbollah ebenso wie auf das regime im iran, das in den vergangenen 13 jahren wiederholt brutal gegen seine eigene aufbegehrende bevölkerung vorging und im ausland, auch in syrien, assads milizen im krieg unterstützte, auf die türkei, die nun noch einmal mehr eine schlüsselposition für europa und in der gesamten region des nahen osten besitzt, und nicht zuletzt für russland selbst, das mit assads sturz und flucht selbst auch eine heftige niederlage erlebt hat und seine eigenen armeeverbände inkl. ex-wagner-söldnern fluchtartig abzieht und massiv an einfluss verloren hat – es ist ein ereignis, das für die syrer*innen in allererster linie eine enorme befreiung bedeutet und unbedingt zu feiern ist, denn nun endlich ist der bürgerkrieg, so die große hoffnung, tatsächlich beendet, mit der flucht des diktators, und ein möglichst freies, selbstbestimmtes syrien ist möglich. ein szenario, das insbesondere für den iran und russland der wahre teufel an der wand bedeutet. umso unangenehmer für diese beiden staaten: der eigentlich von beiden ländern bevorzugte präsidentschaftskandidat trump rief unmittelbar nach assads sturz nun putin zum waffenstillstand in der ukraine auf ( nur um gleich darauf eine kürzung der militärhilfe für die ukraine anzukündigen ) – zu dem es nicht kommen wird, denn waffenstillstände ohne garantien ihn einzuhalten sind meist nur kampfpausen. aber trump scheint gewillt, die situation auch zu seinem ganz eigenen nutzen zu wenden. groteskerweise hat der zutiefst antidemokratische und autoritäre trump hier instinktiv als händler vorteile für sich erkannt, um wieder amerikanischen einfluss in der auch von ihm selbst schwer vernachlässigten region zu bekommen. und das könnte russisches und iranisches streben nach einer neuen weltordnung arg begrenzen.

die langen politischen entwicklungslinien lassen sich erst viel später erkennen. jetzt, fast 14 jahre nach dem beginn des arabischen frühlings, dem ich im sibirischen winter zuschaute, ist mit dem ende der assad-herrschaft in syrien sichtbar, welche bruchlinien in den vergangenen zwei dekaden entstanden sind, wie weit zurück auch das syrische leiden reicht und was in der gegenwärtigen weltlage möglich erscheint, wenn diktaturen stürzen. und als offene warnung und hoffnung auch für russland und den iran: sie stürzen ohne vorwarnung und stets überraschend.