die tatkräftigen

in tanja maljartschuks essay-sammlung gleich geht die geschichte weiter, wir atmen nur aus habe ich diesen kleinen satz gelesen: der holodomor wurde möglich durch die tatkräftige mithilfe an ort und stelle. es ist ein schlichter satz, in seiner aussage augenscheinlich und inhaltlich bestens bekannt: das grauen ist eine gemeinschaftsarbeit. der holodomor, stalins bewusst herbeigeführte hungersnot gegen die politisch widerspenstige ukrainische ssr, war nur deshalb möglich, weil sich so viele an der ausführung des massenmordens beteiligten, willentlich oder getrieben. tanja maljartschuks text führt die bilder des massenhaften verhungerns auf, benennt die entmenschlichung im vorhinein – „kein mitleid mit den hungernden, den handlangern der kulaken, den elenden blutsaugern!“ – und das beschämte verdrängen im nachhinein – „in unserem dorf wurden keine kinder gegessen, aber im nachbardorf.“ doch in diesem kleinen trockenen satz zuvor steht noch etwas sehr konkretes, denn es gleichen sich alle massen- und völkermorde in einem punkt: um viele menschen schnell zu töten, braucht es viele tatkräftige mithelfende. überall, immer. der horror passiert nicht, er wird organisiert, ist systematisch, braucht mitstreiter zum gelingen. im marketing hätte der satz einen leicht anderesn sound: manches wird erst möglich, wenn viele ihre kräfte vereinen.

gemeinsam großes schaffen

mehr als die summe der einzelnen teile

eine sonore stimme über idyllische bilder von menschen die irgendwas tun: zusammen sind wir stark und können viel erreichen

die gleiche stimme über bilder zum holocaust

in den 1990er jahren wurde daniel jonah goldhagen angefeindet für seine these, dass den holocaust eben nicht einzig die Nazis durchgeführt hatten, also eine klar definierbare und übersichtliche personengruppe von der man sich reinen herzens leicht abgrenzen konnte, sondern selbstverständlich und bereitwillig ganz gewöhnliche deutsche, wie der untertitel zu Hitlers willige Vollstrecker lautet, freie und willige helfer und ermöglicher einer umfassenden mordmaschinerie, die ohne diese gewöhnlichen leute dieses ausmaß der fabrikmäßigen tötung von menschen nie erreicht hätte. es waren bei keinem einzigen genozid im 20. jahrhundert, dem zeitalter des völkermordes, von den herero über armenien zum holodomor zum porejmos und dem holocaust und in srebrenica und in ruanda bis zum russischen angriffskrieg gegen die ukraine, nie stets nur die militärischen und paramilitärischen verbände, die die gräueltaten verübten, sondern ihnen haben immer die sogenannten einfachen leute ganz freiwillig zugearbeitet, vorbereitet, mitgemacht, geholfen und in vorauseilendem gehorsam die verbrechen ermöglicht, ob direkt am ort des tötens oder im hinterland. slavenka drakulic beschrieb in ihrem buch der haager kriegsverbrecherprozesse they would never hurt a fly sowohl die hauptverantwortlichen als auch die einfachen willigen vollstrecker: im blick zurück erscheint die tat unvorstellbar, doch im moment der grausamkeit stellt sich die frage nicht, man tut es, weil niemand widerspricht, und es erscheint richtig, folgerichtig.

der russische krieg in der ukraine ist keine ausnahme. nicht allein in der genozidalen absicht des krieges, die ukraine vollständig auszulöschen – viele russische kriegsblogger und propagandisten im tv sprechen davon, sämtliche ukrainer*innen, denen sie das menschsein absprechen, auszulöschen – sondern auch in der bereitschaft der bevölkerung, diesen krieg mitzutragen und zu fördern. die militarisierung der breiten gesellschaft russlands war wie auch in den jahren zuvor rund um den 9. mai zu sehen, inzwischen trainieren kinder den kriegseinsatz. seit einiger zeit folge ich mehreren kanälen des messengers telegram, der hierzulande als fake-news-schleuder und plattform für verschwörungsgläubige aller art bekannt ist. zugleich ist telegram aber auch eine plattform für die in russland verbotene realität des krieges, bei telegram kann man sie unkompliziert finden, denn im gegensatz zu facebook und instagram ist telegram nicht verboten, man benötigt also kein vpn. auf dem kanal Люди Байкала finden sich nachrichten aus dem oblast irkutsk und der republik burjatien, wo ich 5 jahre gelebt und gearbeitet habe und die mich deshalb besonders interessieren. die nachrichten stehen im zusammenhang mit dem krieg, nennen die namen der gefallenen soldaten – immer auch für mich die frage: kenne ich einen der toten? – oder dokumentieren behördliches verhalten gegen die eigene bevölkerung. anfang juni fand sich dort die meldung, dass aus einem der vielen sommerlager für kinder, dem kindererholungslager ogonjok bei ulan-ude, in diesem sommer ein kostenloses wehrerziehungslager für 900 jugendliche im alter von 14-17 jahren wird. die kinder erhalten eine kriegs-patriotische erziehung mit taktischer und militärischer ausbildung, die ausbilder sind 21 in grozny/tschetschenien bei den spezialkräften speznas ausgebildete offiziere, die lagerleiterin olga chernova freut sich auf die kinder, los gehts am 10.juni, freie plätze gibt es schon nicht mehr. die nachricht hatte überwiegend ablehnende kommentare und reaktionen. die offizielle seite der stadtverwaltung von ulan-ude bei vkontakte veröffentlichte zu diesem sommerlager, das mit geldern der präsidialverwaltung durchgeführt wird, ebenso einen beitrag mit reichlich fotos, dieser findet offizell zustimmung. sie verheizen also freudestrahlend ihre kinder. ich habe in solchen lagern rund um den baikal mehrere jahre theaterworkshops gegeben, mit jungen menschen, deren zukunft unsicher war, die mehrheitlich gegen die erdrückende unendliche anwesenheit putins eingestellt waren, so wie 2012 sehr viele auf putin fluchten und ihn nicht mehr wiedersehen wollten. 2013 bin ich bis 2016 in das theaterlager gefahren und habe die veränderungen während des donbass-angriffs und der krimannexion erlebt. und doch spürten einige, dass etwas nicht stimmte an der offiziellen erzählung. war es bis vor zwei jahren noch einfach, sich gegen den präsidenten zu positionieren, so schrumpfte der freie raum immer weiter, wo doch russland von freiheit und größe sprach, das passte nicht zusammen. und die menschen änderten sich, wurden stiller, privater, leiser, oder verließen das land. die vorstellung, dass dort, wo ich mit jugendlichen theater machte, heute also zukünftige soldaten ausgebildet wrden könnten, lässt mir keine ruhe. nicht allein wegen der jugendlichen: es ist eben nicht putins krieg, es ist russlands krieg, die bevölkerung, sofern sie nicht still hält, fördert aktiv und wissentlich die zerstörung. jede einzelne, die sich an derartigen lagern beteiligt, ist mitschuldig. die leiterin, die erzieher, die eltern, das technische und sonstige personal. die jugendlichen, wenn sie dann in den krieg ziehen sollten, kehren zur hälfte tot oder verwundet, traumatisiert und seelisch geschädigt zurück. ganz abgesehen von den zerstörungen, die jeder einzelne schuss jede granate jede miene jeder gesprengte staudamm in der ukraine anrichtet, das land auf jahre bis jahrzehnte entvölkert und unfruchtbar macht.

die tatkräftigen vollstrecker des zerstörungskrieges sind überall unterwegs, vorneweg die unabhängigen milizen, prigoshins wagner-söldner, deren abscheuliche grausamkeiten schon in syrien zu bewundern waren und in der ukraine ihre fortsetzung finden, kadyrows achmat-einheiten, die nun als erste privat-armee offiziell per vertrag der russischen armee unterstellt wurde, aber auch das gegen putin im russischen bezirk belgorod agierende russische freiwilligencorps des bekennenden rechtsextremisten und rassisten denis nikitin und die vom ehemaligen duma-abgeordneten ilja ponomarjov gegründete gruppe freiheit für russland sind solche tatkräftigen mithelfer in einem krieg, der für russland zunehmend unbeherrschbarer wird und dessen deutungshoheit moskau allmählich entgleitet, dabei allerdings – wie mit der staudammsprengung rücksichtslos demonstriert – mehr und mehr verwüstung hinterlassend. für die von der ukrainischen gegenoffensive angestrebte befreiung aller besetzten gebiete veheißt das noch viel weniger gutes, als die besatzung ohnehin schon an terror und leid in die annektierten gebiete gebracht hat. es ist offensichtlich nicht einfach der wille eines einzelnen, vereinzelten und von seinen handverlesenen beratern im imperialen wahn bestätigten und zum krieg verleiteten putin zarewitsch, der von seiner gefolgschaft einfach nur ausgeführt wird, es ist der krieg einer zum imperialen selbstverständis und militärischen heldentum erzogenen und nationalistisch gesinnten bevölkerung, die tatsächlich von der richtigkeit und gerechtigkeit ihrer handlungen überzeugt ist.

man sollte sich daher nicht der illusion hingeben, dass es in russland zu einem neuen 1917 und einer revolution gegen die kreml-machthaber kommen wird. im gegenteil, das post-putin-zeitalter wird verstärkt gewalt im inland hervorbringen und die radikalsten gruppierungen werden sich durchsetzen, zumindest vorübergehend, so wie die bolschewiki als rücksichtsloseste gruppierung sich gegen liberalere gruppen durchsetzen konnte und so den militanten sowjet-kommunismus überhaupt erst geschaffen hat, an dessen spätstalinistische phase das aktuelle russische regime anschließt und dessen machtkämpfe mit prigoshin und innerrussischen milizen längstens begonnen hat. nur sollte man auch die agonie des aktuellen regimes nicht als zu fortgeschritten bewerten, putins apparat verfügt über jede menge geld und macht und loyalem personal in den staatsdiensten, deren überleben vom fortbestehen des systems abhängt, an einen umsturz mit irgendwie demokratisierendem neustart glauben nur diejenigen, die ohne jeden einfluss auf die russische gesellschaft sind: die exilierten.

in berlin traf sich im april viele vertreter*innen der russischen politischen gesellschaftlichen exil-elite, etwa garri gasparov und michail chodorkowski, um für die zeit nach putin pläne zu entwickeln, auch was reparationen an die ukraine betrifft, auch was eine de-putinisierung russlands betrifft, festgehalten in der berliner deklaration. die einzige gruppe, die sich offenbar bewusst fernhielt, waren die exilierten mitarbeiter des anti-korruptionsfonds von nawalny, ohne gründe zu nennen. aus sicht der meisten ukrainer*innen ist insbesondere ihm als befürworter der krim-annexion nicht zu trauen, aber auch die meisten anderen personen und organisationen werden mehrheitlich abgelehnt, da sie zusehr im alten imperialen denken verharren und sie in den vergangenen kriegsmonaten und -jahren russland ausschließlich als terroristisch agierenden besatzer und aggressor erfahren haben, dem ein leben nichts bedeutet und der zu nichts als zerstörung in der lage ist, ganz egal was man in berlin oder anderswo deklariert: die zerstörung der ukraine dauert unvermindert an und wird von tatkräftigen wie der kinderlagerleiterin olga und hunderttausend anderen tchinovniki (staatsbeamten) willig, tatkräftig vollstreckt, so wie diese auch ihre eigene bevölkerung freiwillig und tatkräftig in den krieg schicken, um hunderttausende kriegshelden zu produzieren, wie es eine patriotische parole freudestrahlend formuliert: russland – das land der helden. oder wie es die gouverneurin von chanti-mansijsk natalja komarova schon 2021 zum 9. mai formulierte: krieg ist sieg, krieg ist liebe, krieg ist ein freund, krieg ist die zukunft der welt. denn sie wissen, was sie tun.