die armutsdrohung

vorige woche war ein gespräch mit dem historiker ilko-sascha kowalczuk und dem leipziger kultursoziologen alexander leistner anlässlich der veröffentlichung des buches „freiheitsschock“ im hamburger institut für sozialwissenschaften. die wütende gegenrede zu insbesondere dirk oschmanns polemik „der osten. eine westdeutsche erfindung“ sowie implizit auch katja hoyers ddr-geschichte „diesseits der mauer“ hat als zentrale these den schock einer sehr radikal über die ddr-gesellschaft mit der währungsunion und später wiedervereinigung hereingebrochenen freiheit, auf welche die allermeisten menschen schlicht nicht vorbereitet waren. der freiheitsbegriff von kowalczuk ist ein sehr aktiver, der gesellschaftliches engagement und einmischung bedeutet, aber auch aktive auseinandersetzung mit der eigenen verfasstheit sowie den autoritären prägungen durch die ddr, die sich etwa in der massiven ablehnung (kowalczuk spricht von hass) der politischen usa als metonym für „den westen“ sowie gleichzeitigen idealisierung des ökonomischen und kulturellen „westens“ ausdrückt, eine paradox erscheinende haltung, die sich politisch in großer zustimmung für die faschistische afd und neostalinistische bsw ausdrückt. der schock nun, einer auf aktiver teilhabe und mitbestimmung basierenden freiheit ausgesetzt zu sein, ohne diese teilhabe und mitbestimmung in der ddr je erfahren oder erlernt zu haben, führt zu einer überforderungserfahrung und nachfolgend abwendung von dieser freiheit, zu einer idealisierung der autoritären ddr, in der der staat die politisch-gesellschaftliche verantwortung den bürgern abgenommen hatte bzw die bürger massiv sanktionierte, wenn diese vom staat ihre freiheit und mitbestimmung verlangten. da jedoch die revolution von 1989 nur von einer minderheit der bevölkerung getragen wurde, die wenigsten an den demonstrationen und noch viel weniger an den politischen runden und zirkeln teilnahmen und daher die meisten sozusagen passiv zur freiheit kamen, aber die konsequenzen einer innerhalb kürzester zeit sich radikal veränderten ökonomischen realität gegenübersahen, mit der sie nicht gerechnet hatten, lehnten viele dann auch den westen nach anfänglicher freude über die reisefreiheit und d-mark ab. das kohl-versprechen, die regierung werde für blühende landschaften sorgen, griff den topos des sich kümmernden staates wieder auf und führte nicht zu einer aktivierung der ostdeutschen gesellschaft, den wandel selbst mitzugestalten. unter dem stichwort der ostalgie wiederum entwickelte und verfestigte sich eine haltung, bürger zweiter klasse zu sein und vom westen ausgeschlossen zu werden. dabei steckt in dieser haltung ein sich selbst entlastendes opfer-denken, das anderen, insbesondere dem westen, die schuld für die lage zuschreibt. es ist dies die haltung, die sich bei oschmann vehement artikuliert, aber in ähnlichen zügen auch bei hoyer angelegt ist. es ist auch die identische haltung, die sich in europäischen autoritären politischen systemen, allen voran putins russland, ausdrückt: der westen = die usa ist schuld an den übeln der welt und man wehre sich nur.

diese autoritäre idee, so wurde am abend vergangene woche deutlich, lässt sich insbesondere in ostdeutschland aktivieren, da die jüngste transformationserfahrung mit vielen radikalen biografischen brüchen in den familien eingeschrieben und noch sehr lebendig im gedächtnis ist als eine große unsicherheit und verlust von ordnung und stabilität in der gesellschaft. (ganz identisch wie die russischen jelzin-jahre und gorbatschows umbau-phase als schreckensbild von putin immer wieder aufgerufen wurde unter dem stichwort der „stabilität“, was putin enorm hohe zustimmung in der bevölkerung brachte – er appellierte an ihre ängste.) diese aktivierung erfolgt über eine besonders perfide form der angst: der drohung mit armut und statusverlust. der berühmte tiktok film maximilian krahs zur europawahl, dass „echte männer rechts“ seien und so auch eine freundin bekämen, ist insbesondere im osten bei den jungen menschen so erfolgreich, weil die jungen die ablehnung des westens von den eltern übernehmen und zudem mit der zunehmend schiefen demografischen situation in den ostdeutschen ländern als tatsache konfrontiert sind: es gibt deutlich mehr junge männer als junge frauen, die zudem besser gebildet sind als die männer und eher richtung westen abwanderten. krahs filmchen ist ein erfolgsversprechenfür junge männer, die in einer sich erneut schnell wandelnden gesellschaft – überalterte, männlich geprägte gesellschaft, komplexe weltlage, zuwanderung und klimawandel – keine zukunftsprognosen wagen können: wie sieht das leben in 10 jahren aus? nicht vorhersagbar. aber erfolgreich mit den mitteln der nazis. andernfalls folge der absturz ins bodenlose. armut ist eine zentrale drohung, die in den programmen der allermeisten parteien steht, und armutsverachtung ist auch eine der entscheidenden kulturtechniken des neuliberalen kapitalismus der 1980er jahre, wie ihn insbesondere fdp und auch cdu-csu propagieren, denn diese parteien sind aus ihrer westdeutschen nostalgie auch nicht herausgekommen. deshalb sind diese parteien mit ihren programmen auch so unkompliziert anschlussfähig an die radikalen afd und bsw: in ihnen ist ein autoritäres staatsverständnis eingeschrieben. in fdp und cdsu die verherrlichung der deutschen verbrenner-automobil-industrie und massive verachtung armer und von armut bedrohter menschen (bzw wie es merz vorschlägt: mehr respekt für reiche), außerdem ein völlig offen vorgetragener rassismus bis hin zur abschaffung des menschenrechts auf asyl. in der afd ist es die rassistisch-völkische ideologie der globalen rechten, im bsw die leninistische staatsherrschaft einer diktatur der mehrheit, gepaart mit einer radikalen ablehnung der usa an sich. alle vereinen in sich eine autoritäre antidemokratische haltung, und sie wenden sich jeweils an die bürger mit einer angsterzählung des ordnungs-/werte-/statusverlustes: sie drohen mit armut und verelendung, vorrangig von den grünen, früher waren es die linken bis zu deren völligem bedeutungsverlust, in gang gesetzt. es sollte nicht verwundern, dass insbesondere die generation, die vor 35 jahren die wende wesentlich mittrug, auch die generation ist, die mehrheitlich die sogenannt bürgerlichen parteien gewählt haben und damit die errungenschaften der wiedervereinigung verteidigt haben so gut das ihnen möglich war. die jungen hingegen, insbesondere auf dem land, wählen antidemokratisch, weil sie tatsächlich glauben, so ihren status quo am einfachsten erhalten zu können. es ist in der tat nicht voraussehbar, wie sich die autoritäre wende, wie sie sich in den letzten jahren in vielen europäischen ländern ereignet, zuletzt massiv in österreich, auf die menschen auswirken wird. doch ganz sicher nicht erfolgreich und positiv, davon ist auszugehen.

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