die aggressive simulation

der russische eroberungs- und zerstörungskrieg gegen die ukraine ist inzwischen ein halbes jahr alt, ein ende ist nicht in sicht, welches könnte es auch sein, russland möchte die ukraine vollständig zerstören und sich einverleiben, die ukraine möchte ihr gesamtes territorium inklusive seperatistengebiete und krim vollständig zurück, in europa gehen die perspektiven für ein kriegsende ziemlich auseinander sofern sich überhaupt noch jemand zwischen energiepreisen und massiver trockenheit für die ukraine interessiert.

vor wenigen tagen traf ich die autorin tanja schwarz zum büchertausch, und auch wenn wir uns schon vorher stets gut verstanden, so ist unser blick auf diesen irrsinnigen krieg und seine abscheulichen verbrechen mit ansage doch sehr ähnlich, vor allem in der beurteilung der europäischen und insbesondere deutschen halbherzigen reaktion gegenüber dem russischen aggressor. kommentare wie etwa von friedrich küppersbusch zur rein defensiven bewaffnung der ukraine, was eine inhaltliche variation der offenen briefe vom märz und juli ist, scheinen inzwischen fast mehrheitsfähig, und in schöner regelmäßigkeit ploppen groteske forderungen nach eröffnung von nordstream2 auf, jüngst dargeboten vom irrlichternden wolfgang kubicki, und insgesamt verfestigt sich der eindruck, dass die ein wichtiger teil der deutschen politischen landschaft entweder nicht verstanden hat oder gar sehenden auges ignoriert, was dort in der ukraine real passiert: es gibt keinen „konflikt“ von zwei staaten/parteien/akteuren um ein mehr oder weniger großes etwas, bei dem man mit diplomatischem geschick eine für beide seiten „gesichtswahrende“ verhandlungslösung finden könnte, es gibt keinen kampf um ressourcen, wasser, bodenschätze etc, es gibt keine fundamentalistischen religionsmilizen oder warlords die einen eigenen anspruch auf kleinstterritorium durchsetzen wollen, ja es ist nicht einmal ein stellvertreterkrieg wie seinerzeit in den heißen phasen des kalten krieges – es ist genau das, was der russische präsident und all seine regierungsmitarbeiter und internationalen staatsbeamten soldaten und söldner in jede kamera und jedem twitteraccount in die welt rufen: eine eroberung und zerstörung der ukraine aus dem geiste des russischen imperialismus. was auf der krim unblutig durch die ungekennzeichneten „grünen männchen“ gestartet wurde, nämlich die vollständige zerstörung der existierenden, historisch gewachsenen sozialen struktur einer region und ersetzung durch eine einzige russischsprachige realität, wird in allen eroberten und besetzten gebieten im süden der ukraine auf identische weise durchgeführt: die ukraine als land und soziokulturelle realität wird vollständig gelöscht, nachzulesen etwa in diesem interview einer aus dem besetzten cherson geflohenen russischsprachigen ukrainerin. in einem auf zerstörerischer eroberung ausgerichteten krieg ist das beharren und anmahnen einer verhandlungslösung gefährlich naiv und vollständig absurd, was sollte denn zu verhandeln sein und wie sollte die verhandelte lösung überprüft, überwacht und ggf durchgesetzt werden, wenn nicht militärisch? hat irgendeines der minsk-abkommen zu den „separatistengebieten“ seit 2014 zu einem zeitpunkt ruhe und befriedung gebracht? hat sich russland an seine eigenen verträge und die anerkennung der ukraine als souverän gehalten? warum sollte man einem staat die einhaltung einer verhandlungslösung trauen, der sich bisher in allen kriegen nach dem ende der sowjetunion um kein einziges internationales abkommen geschert hat? wie kommt jemand auf den gedanken, russlands staatlichen organen und handelnden akteuren irgendwie trauen zu können?

es hat sich nichts, gar nichts geändert in den vergangenen 6 monaten. 8 jahren. 22,5 jahren seit putins machtübernahme.

für alle, die es immer noch glauben wollen, dass mit dem existierenden russland einfach nicht gut genug auf augenhöhe verhandelt wird bzw durch waffenlieferungen an die ukraine der krieg und das leid der bevölkerung unnütz verlängert würde, dem sei dieses büchlein dringend zur maximalen deprimierung empfohlen: irina rastorgueva das russland-simulakrum. dieser herausragende essay der exilierten russischen journalistin rastorgueva stellt die these auf, dass russland spätestens seit der dritten präsidentschaft putins 2012 eine bloße simulation eines staates ist, ein real gewordenes fiktives land, das die kommunikation mit seiner bevölkerung vollständig eingestellt hat, in dem es außer der staatsräson des machterhaltes keinen sonstigen ideologischen kern mehr gibt, ganz im gegensatz etwa zur sowjetunion, bei der es immerhin noch einen ideologischen konsens gab, nach dem sich alles richten sollte. in putins russland hingegen ist der staatsapparat inklusive juristerei und medien ein absoluter herrscher, der durch nichts zu entlarven oder zu bekämpfen ist, einfach weil die zahlenmäßigen kräfte fehlen, die der übermacht des staates sich entgegenstellen könnten. sämtliche proteste gegen das staatliche handeln, das im wesentlichen die willkürliche begrenzung jeglicher bürgerlicher freiheiten zum ziel hat, und da waren die gesetze zur eindämmung der antikriegsproteste noch nicht in sicht, sind von vornherein zum scheitern verurteilt, weil die protestierenden immer in der unterzahl bleiben. rastorguevas pessimistisches, sehr wahrscheinlich realistisches szenario ist eine blutige revolution, dessen zeitpunkt nicht bestimmt werden kann. doch die ideologische leere des staates russland, in dem schlicht alles sinnlose seinen platz hat, solange es dem staat dient, veranschaulichen allein die ersten 50 seiten, auf denen für das jahr 2021 in monatlicher abfolge ereignisse in russland aufgeführt sind, die in keinem anderen staat der gegenwart so möglich sind. hier drei meldungen von juli 2021, s. 27f.:

Vertreter der in Russland als Terrororganisation verbotenen Taliban treffen in Moskau zu Gesprächen mit dem Sonderbeauftragten für Afghanistan, Samir Kabulow, ein. [anm.: zum vergleich stellen sie sich eine begegnung mit vertretern der in deutschland verbotenen hisbollah mit dem nahostbeauftragten der bundesregierung vor.]

Die Sprecherin des russischen Außenministeriums, Maria Sacharowa, beschuldigt einen Beamten der US-Botschaft, ein Weichensignal an einer Bahnstrecke bei Ostaschkow in der Region Twer gestohlen zu haben.

Waldimir Putin publiziert einen Artikel über die Ukraine. Leitgedanke des Artikels ist, dass der einzige wirkliche Staat im postsowjetischen Raum die Russische Föderation ist, und ihre historische Mission darin besteht, „unsere Länder“ und die „dreieinige slawische Nation“ zusammenzuführen. [anm.: der artikel, siehe auch dieser post vom vorkriegs-februar 2022, wird noch im gleichen monat pflichtthema für militärische und politische ausbildung von soldaten.]

jede und jeder, die oder der noch je an irgendetwas gutes oder positives im zusammenhang mit russland glaubt, sollte dieses land in seiner eigenen medialen realität wahrnehmen und sich noch einmal überlegen, mit wem sie oder er da versucht, eine verhandlung zu führen. es ist ein land, das jeglichen anschluss an eine verifizierbare realität verloren hat, weil es permanent sich widersprechende realitäten und fiktionen produziert, die im kern nur zwei dinge gemein haben: sie sind ohne jede belastbare ideologie, selbst dem imperialen fehlt es an idee jenseits des besitzes, und sie sind verachtend für alle, die sich gegen den russischen staat bzw die „russische welt“ stellen. was will man von einem solchen land anderes erwarten, als dass die freunde des faschistischen und autoritären sich bereitwillig hingeben wie die wespen dem konfitürenrausch. übrigens nicht nur in deutschland, die autoritär-faschistischen stricke und verbindungen in so ziemlich alle lager sämtlicher europäischer staaten, mit wenigen ausnahmen wie das baltikum und finnland, sind engmaschig und äußerst stabil.

in der wirklichen realität des russischen zerstörungskrieges gegen die ukraine jedoch schienen in den vergangenen wochen und tagen immer wieder ereignisse auf, die die russische erzählung von der militärischen und sowieso moralischen übermacht gegen die faschistische nato-puppe ukraine empfindlich störten, explosionen militärischer einrichtungen auf der annektierten krim oder das attentat auf darja dugina mitten in moskau, wie kann das sein bei einem so hochgerüsteten land mit einem so funktionsfähigen verteidigungsapparat mit seinen vielen geheimdiensten etc. die erklärungen waren ebenso schnell wie billig bei der hand, sabotage, schlamperei, der ukrainische geheimdienst und was einem noch so alles einfallen könnte. es ist übrigens dabei vollkommen egal, ob sich mit dem bekennervideo ilja ponomarjevs partisanengruppe „nationale repubikanische armee“ eine weitere inszenierung des kreml in die debatte mischt oder die gruppe real ist und ob es zu weiteren attentaten kommen wird – die russische kriegsführung scheint keineswegs so zu laufen wie gewünscht und der konflikt scheint sich mit derartigen anschlägen, aber auch auf militärische bzw militärisch genutzte infrastruktur auf das russische kernland selbst auszuweiten. oder die unmenschlichkeit des krieges öffentlich beschreibende soldaten, die sich gegen die russische offizielle darstellung stellen. womit das simulakrum ganz reale risse bekommen könnte, die sich durch weitere aggressive rhetorik und tötungsfantasien wie etwa duginas selbst allmählich immer weniger kaschieren ließen, evtl. das problem ist: was soll eigentlich aus diesem land irgendwann einmal werden, hat irgendjemand in russland eine friedliche, progressive idee?

davon kann nicht ausgegangen werden, nicht im heutigen aggressiven faschistischen autoritären simulationsstaat russland.

irina rastorgueva: das russlandsimulakrum. kleine kulturgeschichte des politischen protests in russland. matthes und seitz 2022, 274 seiten. 20€.

Comments (1)

  1. Pinkback: tage im spätsommer – t . x . t

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